Mit spitzer Feder …
endlich, endlich bist Du da. Wir haben Dich schon so lange erwartet. Bereits im März, als Dein Vorgänger erst ein paar Monate alt war, haben wir nach Dir gefragt auch auf Dich gesetzt. Im Herbst war dann die Sehnsucht unermesslich und jetzt bist Du endlich da und wir hoffen so sehr, dass nun einfach alles besser wird. Dass Du uns von dieser mühsamen Pandemie befreist und uns wieder unsere Freiheit, unser «normales» Leben mit vielen glücklichen, unbeschwerten Stunden zurückgibst. Wir wünschen uns so sehr, dass Du uns von den Masken und dem eingeschränkten mühsamen Alltag befreist, dass unsere Geldbeutel wieder Flut haben und die Auftragsbücher voll sind. Wir sehnen uns danach, dass wir unsere Liebsten bedenkenlos in den Arm nehmen, dass wir ohne Warteschlange in der Kälte vor dem Geschäft einkaufen, und dass wir singen und lachen können. Dass wir am Jahrmarkt, in der Eventhalle oder in der Disco ein Bad in der Menge nehmen können. Liebes 2021, Du siehst unser Wunschzettel ist gross und unsere Erwartungen immens, aber wir sind überzeugt, Du kannst das alles irgendwie richten. Wir haben dem Jahr 2020, das uns so viel Ärger und Ungemacht gemacht hat, endgültig den Rücken gekehrt und einen dicken, schwarzen Strich daruntergezogen. Und nun stossen wir mutig und hoffnungsvoll die Tür zu Dir liebes Neues Jahr auf.
Doch es ist wie verhext, auch Du liebes neues Jahr meinst es vorerst nicht besonders gut mit uns. Dabei haben wir Dich mit Champagner, Bleigiessen, Böllerschüssen und Feuerzauber am Himmel, mit ganz vielen guten Wünschen willkommen geheissen. Kaum ein paar Wochen alt, hetzt Du uns schon mutierte Coronaviren und die Grippewelle auf den Hals, als ob wir nicht schon genug ausser Atem sind mit Corona. Dein Mantra lautet «Halten Sie Abstand» und auch Masken und Desinfektionsmittel gehören an die Tagesordnung. Du scheinst unsere Wünsche nicht erfüllen zu wollen und zeigst Dich störrisch und unkooperativ. Wir sind wirklich sehr enttäuscht und am liebsten würden wir alle einfach alles hinschmeissen und Schaukeln gehen – natürlich ohne Maske. Wie stellst du Dir das denn vor? Wie soll es so weitergehen. Wir haben schon von Deinem Vorgänger die Schnauze voll und Du schlägst jetzt in dieselbe Kerbe. Es reicht nun wirklich: wir wollen nichts mehr hören von steigenden Fallzahlen, von Corona-Toten, von Intubieren, von systemrelevanten Betrieben, von verschärften Massnahmen, von Pandemie-Demos und Verschwörungstheorien etc. Lass uns damit doch endlich in Ruhe. Auch diese Verunsicherung bezüglich Impfungen gehen uns gewaltig auf den Sack. Du musst uns auch keine Studie mehr präsentieren und keine Interviews mit frustrierten Gastronomen mehr bieten. Wir haben es so satt. Wir hören und sehen nicht mehr hin. Wir wollen endlich unser freies Leben zurück. Bitte, bitte, mache jetzt endlich, dass alles wieder gut wird.
Ach ja, im Gegenzug versuchen wir den CO2-Ausstoss so gering wie möglich zu halten, etwas nachhaltiger zu leben, arme und bedürftige Länder zu unterstützen, weniger zu streiten und unsere Wachstumsstrategie zugunsten unseres Seelenheils etwas zu mässigen etc. – Du weisst schon, was wir meinen. Aber die Welt retten – nun das können und wollen wir nicht. Eigentlich möchten wir da weiterfahren, wo wir im März 2020 aufgehört haben. Nun inzwischen wissen wir, dass es wohl nie mehr ganz so werden wird. Auch gibt es einige unbelehrbare schwarze Schafe unter uns, die eigentlich auch durch Corona nicht wachgerüttelt wurden und noch in ihrem alten profitgeilen Denkmuster verharren und sich für unsterblich halten. Verzeih liebes Neues Jahr, diese Zeitgenossen kannst wohl auch Du nicht ändern. Aber vergiss nicht, es hat noch ganz viele andere Menschen, mit einem grossen Herzen und viel Empathie, Fürsorge und Verständnis für ihre Mitmenschen.
Deshalb sei etwas grossherzig und grosszügig, und beschere uns mindestens im zweiten Halbjahr etwas Ruhe und Glück. Ist das nicht ein Angebot – ein guter Kompromiss? Was denkst Du? Weisst Du – manchmal sieht man es nicht auf den ersten Blick, aber es gibt da draussen ganz viel Potenzial: innovative Ideen, Fantasie, Mut, Standhaftigkeit, Empathie, Ehrlichkeit, und eine grosse Portion Liebe. Also schenke uns doch Vertrauen und Hoffnung und führe uns in bessere Zeiten – denn das Leben ist doch ein ständiges Geben und Nehmen – und es ist Zeit, dass die Sinuskurve wieder steigt!
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin
